Novemberblues

Auf das Dach der Welt sollte es gehen, mit dem Rucksack, eher nostalgisch dampfend, durch die Landschaft zügeln und nur etwas weniger verrückt. Stattdessen: nasse Kälte, ein voller Schreibtisch und Augenringe die Winterreifen Konkurrenz machen.

Mr. Cabdriver's Gripping Stories

Der Weg der uns verbindet ist kurz. Ich steige ein und sage das Fahrziel an. Er antwortet, ich realisiere, er ist Engländer. Ein 'wo sind Sie her' und wir wechseln die Sprache. Einigkeit im Urteil über die Stadt in der ich vor Jahren gelebt habe in seinem Land. Ein kurzes wer-wo-warum im hin und her und er erzählt mir eine Geschichte. Seine Eltern besaßen ein winziges Hotel in einem viktorianischen Haus einer Kleinstadt. Ein Mann um die fünfzig nahm ein Zimmer für vier Tage. Er hielt sich bedeckt. Schach war seine Leidenschaft. Damit traf er auf die Neugier meines damals kindlichen Taxifahrers. Der hatte nichts gehört oder gelesen über angehende Ermittlungen zur Auffindung eines Vergewaltigers und Mörders und saß gebannt und gewinnhungrig mit dem Unbekannten vor dem Schachbrett. Die Spezialeinheit drang währenddessen ins Hotel und informierte seinen Vater. Der, besorgt um seinen Sohn, betrat den Raum des gedankenversonnenen Spiels und rief seinen Sohn. Er hätte ein Frage, den Geburtstag der Mutter betreffend. Der Sohn ist ins Spiel vertieft, will es zu Ende bringen. Erst beim dritten Ruf folgt er dem Vater. Die Polizeieinheit stürmt den Raum und nimmt den Mann fest, der später als Serienkiller verurteilt wird.
Spannend. Ich bin in der Erzählung gefangen. Das Taxi stoppt. Ich zahle. Wir schwatzen kurz über meinen Job. Ich erzähle, erwähne einen Mordfall, der 20 Jahre später aufgrund von erneut untersuchten DNA-Spuren gelöst wurde. Er wird neugierig und mag mir eine weitere Geschichte erzählen. Die Rufe der Zentrale blockt er. Seine Worte sind ihm wichtiger. Ich habe Zeit, bleibe im Wagen sitzen und lausche gebannt.
Vier Häuser vom Hotel der Eltern wohnte einst eine alte Frau. Regelmäßig bekam sie Besuch ihrer Neffen. Eines Tages stürzte einer der Neffen aufgeregt ins Hotel und rief die Polizei. Seine Tante liege tot in ihrem Haus. Die Polizei stellt Fingerabdrücke sicher, nimmt DNA-Spuren auf. Der Bruder meines Taxifahrers, Handwerker von Beruf, hatte der alten Dame diverse Dinge im Haus repariert. Seine Spuren waren überall. Er wurde intensiv observiert und befragt. Seine Unschuld konnte er nicht beweisen. Für die Kriminologen war klar, die alte Dame war durch mehr als 80 Stiche mit einem Schüreisen zu Tode gekommen. Heimlich durchstreifen der zukünftige Taxifahrer und sein Tantenfreund das Haus und finden einen Kaminhaken, versteckt in einer Kammer und eingewickelt in einen alten Lappen. Die Analyse der Kriminologen ergibt: die DNA-Spuren sind nicht identisch mit denen des Bruders meines Taxifahrers. Die Verwandtschaft der alten Dame wird erneut überprüft. Es stellt sich heraus, dass die DNA mit der eines Großneffen der Tante identisch ist. Der Minderjährige gibt in der Vernehmung zu, sich mit seiner Großtante über ein von ihr bereitetes Essen gestritten zu haben. Offensichtlich psychisch krank, so das Fazit der Ermittler, hatte erf wieder und wieder auf die Frau eingestochen und dann den Tatort verlassen. Er wurde nach Jugendstrafrecht verurteilt, der Bruder meines Taxifahrers entlastet.
Ich hätte ewig im Wagen sitzen bleiben können und bin mir sicher, er und ich hätten uns bis zum Morgengrauen weitere Geschichten erzählen können.
Man trifft sich immer zwei Mal im Leben. Ich sollte werde mehr Taxi fahren!

Heim-Wart-Amaryllis

Amaryllis





Kaltnäsig, Lider wie Blei, matte Glieder. Spätabends im Zustand totaler Erschöpfung die Wohnungstür entriegeln. Mit dem ersten Fuß in heimatlichen Gefilden. Der Blick dabei fällt auf ihre Blüten.
Großhirnreste werfen eine Zeile vor das innere Auge: Aus manchen Männern werden spät Kavaliere. Lächelnd den Roten ins Imaginäre prosten.

Denkwidrigkeiten

Beauftragte Stadtflucht. Verschneite Landschaft. Eisiger Wind. Neben der Kasse in der Tankstelle kniet ein Mann sinnierend vor einem Drehständer voller Angelhaken und Köder.
Später. Drei Menschen vor einem Landhaus. Rauchend. Ein Geräusch durchbricht die vorabendliche Stille. Instinktiv wühlen alle drei in ihren Taschen auf der Suche nach den dienstbedingt zum Vibrieren verdonnerten Handtelefonen. Kein Kontaktaufnahmeversuch.
Wieder vorabendliche Stille. Wieder das Geräusch. Das Szenario der drei wiederholt sich.
Wieder nichts.
Beim dritten Mal finden sie heraus, dass das Muhen einer Kuh in der Ferne (fast) so klingt, wie ein auf Taschenkram vibrierendes Handy.
Geräuschverzerrte Großstädter.
Später. Die Stille vor dem Fenster der Landpension frisst sich in den nordisch kalten Raum.

Down

Down

Nächtens...

Wo genau das sei, wo ich hin wolle fragt er mich unsicher. Ich beschreibe dem Taxifahrer das Ziel der kurzen gemeinsamen Reise. Er entschuldigt sich, erst seit drei Wochen mache er diesen Job. „Und davor“, frage ich neugierig. „Ich war Steinesetzer“, entgegnet er. „Sie haben also Grabsteine gesetzt?“, mutmaße ich. „Nein, da so (er zeigt auf einen vorbeifliegenden Bürgersteig), da habe ich Steine gesetzt.“ Neugierig will ich wissen: „Und warum tun sie das nicht mehr?“ „Mein Sohn, ich kann dann nicht zu ihm nach Hause, wenn er mich braucht.“ Ich verstehe nicht und will mehr wissen. „Warum müssen sie tagsüber zu ihrem Sohn?“, frage ich, meine offensive Neugier entschuldigend. „Er ist zwölf, er hat irgendeine Stoffwechselerkrankung, er kann nicht sprechen, nicht laufen, meine Frau schafft das nicht allein. Ich muss ihr helfen.“ Von seiner so innigst väterlichen Reaktion beeindruckt frage ich ihn nach der Diagnose. Sein „ich weiß es nicht, die Ärzte sagen nichts, sie wissen es vielleicht nicht“, drückt mich tief in den Sitz und meinen Magen in den Wutmodus. Zwölf Jahre schon leidet sein Sohn, zwölf Jahre schon hält man ihn und seine Familie hin, zwölf Jahre schon zwingt man ihn und seine Lieben mit einer vorgeblichen Ungewissheit zu leben? Warum? Weil er Türke ist, nicht fließend die Amtssprache spricht, man ihm Dinge deshalb nicht erklärt, einen erhöhten Diagnose- und/oder Pflegekostenaufwand vermeiden will? Das sind meine Mutmaßungen – sicher. Aber das ist auch meine Wut. Berührt und tatenwillig gebe ich ihm meine Visitenkarte, erkläre ihm, dass ich nichts versprechen kann, aber mein Möglichstes tun werde - klein in meinem Sein, sehr willig im Kampf gegen Ungerechtigkeit. Er bedankt sich, will mir schreiben und würde sich freuen, wenn ich für seinen Sohn etwas erreichen könnte. Ich werde es versuchen - das habe ich ihm fest versprochen.

Left Over

Left-Over
Kurhaus Ahrenshoop

Déjà-vu

D-j-vu
Ins Offene. Räume waren zu klein, Schönheit und Atmosphäre zu eben für rissige Gedankenberge. Hässlichkeit und Aversion sollten Abstand schaffen, dem vollzogenen Bruch eine andere Welt zuweisen. Die ungewisse Zukunft durfte nicht dort beginnen wo ihr Erinnerung Kraft entziehen würde. Stunde um Stunde nahmen Worte durchstreiften Straßenzügen das Gesicht. Bruchstückhaft fraßen sich Träume in Fassaden – und blieben Fragmente. Sehnsüchte liefen ihrer Zeit davon.
Der Zufall zwingt Füße taggenau neun Monate später auf den gleichen Weg. Abscheu und Tristesse bestimmen diesmal den Zweck fallender Worte. Fetzen erinnerter Sätze versinken im Novembergrau während Hände Wünsche an Wände kleben. Vergebens.

Zehn Cent Erinnerung...

10_Cent Wir mögen uns nicht. Oder besser: ich mag sie nicht. Wie es ihr damit geht, ist mir egal. Sie gibt Geräusche von sich, die meine Nerven strapazieren. Deshalb bekommt sie ihr Futter und darf es verdauen, wenn ich ihren Flatulenzen nicht lauschen muss.
Fütterung am Mittag. Ich lasse sie allein.
Bei meiner Rückkehr erwarte ich sie friedlich, doch sie kaut immer noch – mit monotonem, ewig wiederkehrendem Geschmatze und ohne Fortschritt in der Digestion.
Ich sehe und presse rot, zwinge sie, aufzuhören und entziehe ihr per Schlauch den Magensaft.
Als ihr Wiederkäuermaul aufspringt, speit es mir widerwillig seinen Inhalt entgegen: ein ihr für die Futterverwertung unerlässliches und nun geschreddertes Zähnchen und zehn Cent, fein patiniert.
Lange muss ihr die Münze hart aufgestoßen sein, um das Mahlwerkzeug so hinrichten zu können. Nachdem ich Geldstück und Zahnreste mühsam extrahiert habe, ist sie mir gram und verweigert beleidigt ihren Dienst.
Dabei habe ich sie stets mit sortenreiner Nahrung versorgt. Gefahr für ihre gesunde Verdauung bestand immer nur, wenn gedankenversunken und unsortiert von ihr bis dato unbekannten Händen zugefüttert wurde. Und mit diesem Wagnis war sie schon lange nicht mehr konfrontiert.
Ich betrachte verloren die Patina auf dem Geldstück, die samtig auch die Gedanken an Zeiten fröhlicher Herstellung von Mischfutter umhüllt.
Nur zehn Cent Erinnerung...

...

Dem Nebel in den Wald folgen, dem Klang laubkuschelnder Schritte lauschen, dem Tag entfliehen...

Düstere Nacht...

... der Erkundung ergeben. Theorie schlägt Praxis. Was notwendig ist, fehlt im realen Leben, was gebraucht wird und erlaubt ist, widerspricht Recht und Gesetz. Erforschen von Grauzonen, einem humanen Sterben geschuldet, dem realen Leben fremd.

Kunst im Fluss

Eine Messe und drei Satelliten, die inzwischen Planeten sind, hunderte Galerien, tausende Kunstwerke – die Masse erschlägt.
Trittbrettfahrer, Kopierer, Möchtegerne, knallharte Vermarkter von Oberflächlichkeit aller Orten. Jedoch ist positiv zu vermerken: es werden weniger.
Schon allein deswegen lohnt sich der Kunstmarathon in diesem Jahr besonders.
Weniger ist mehr scheinen sich viele Galeristen auf dem Art Forum auf die Fahnen geschrieben zu haben. Ruhig gestaltete Kojen, oft nur mit Einzelpositionen besetzt, laden zu nachwirkenden Entdeckungen ein. Auftritt und Präsentation der Galerien sind wie immer hoch professionell. Erfreulich ist der weitgehende Verzicht auf die im laufenden Betrieb vertretenen Blockbuster zugunsten versuchter Erregung von Aufmerksamkeit für viel versprechenden Nachwuchs.
Die Berliner Liste empfängt im denkmalgeschützten und einer Luxussanierung todgeweihten, ehemaligen Hotel Cumberland. 74 Galerien buhlen um Aufmerksamkeit. Auf einige hätte der Veranstalter zugunsten von Qualität besser verzichtet, denn ihr Hang zu Kitsch und Dekorativem wirkt störend zwischen anspruchsvollen Positionen internationaler Kunst. Unkonventionelle Arbeiten strahlen hier deshalb um so heller.
Die Möglichkeit des Weiterlebens eines ‚Untoten’ beweist die Preview im Hangar Zwei des Flughafens Tempelhof. Höhe und Weite beflügeln hier den Kunstbetrieb, sowohl im Spektrum teilnehmender Galerien als auch in Art und Präsentation der Arbeiten.
Wandertaugliches Schuhwerk erfordert der Kunstsalon. Im Umspannwerk in der Kopenhagener Straße setzen die Veranstalter auf Kuratoren- und Künstlerprojekte, was der Messe einen erfreulich unkommerziellen und sehr experimentellen Touch gibt. Mangelnde Professionalität wird hier zum Plus und läßt den Besucher zum Forscher in Raum und Installation werden.
Was allgemein überwiegt, ist die Tendenz zu Fotografie, feingliederiger Zeichnung und Kleinplastik.
Grazil und hintergründig, sei es in Kohle, Kreide oder Bleistift, fein ziseliert, ausgeschnitten und collagiert geschichtet, bedacht vieldeutig installiert, laden viele Arbeiten zu hintergründiger Entschlüsselung. Willigen Entdeckern wächst Raum und nachhaltiges Erlebnis, Anhängern von Pomp und Oberflächlichkeit Mangel. Ein sehr erfreulicher Trend, ein back-to-the-roots.
Und ganz persönlich? Nach zwei Tagen der Kunst (vorerst) satt, bleiben die Eindrücke, die mich innerlich getroffen haben, die Arbeiten, die mich da abholen, wo ich gerade innerlich stehe. Das ist sehr subjektiv.
Fluegel
Als ich diesem Objekt begegnete, war es um mich geschehen. Nein, ich werde nicht verraten auf welcher der Messen, bei welcher Galerie – denn ich habe mich verliebt. Und jetzt wird es das ewige Spiel um Liebe und Geld. Ich hoffe auf Ignoranz folgender Rezipienten und weiß doch um Menschen mit ähnlichen Gefühlen und Wünschen. Einer wird mir dieses wundervolle, mechanische Wunschkästchen wegkaufen, vielleicht schon morgen. Und ich werde trauern, um das Teil von mir, das da so tief drin steckt und dann wohnen wird, wo ich nicht bin. So gern würde ich an dem kleinen Eisenteil ziehen können, wann immer ich mag und das Flügelchen in Bewegung setzen, meinen Träumen Raum gebend, wieder und wieder mit ihm in unbekannte Weiten fliegen.



Robinia

Und ein Objekt hat mich in Bauch und Hirn gleichzeitig getroffen, mich da tief getroffen, wo ich gerade stehe und: es war bezahlbar. Die ‚Robinia pseudoacacia (L.) in vitro’ von Klaus Fritze wird fortan bei mir wohnen. Aus einem Samen gekeimt, ist das zarte Pflänzchen in einem 20 cm hohen Weckglas mit einer fixen Nährlösung eingesperrt, mag kein direktes Sonnenlicht und wird sich deshalb auf meinem Schreibtisch hoffentlich wohl fühlen. Ich werde dem Bäumchen beim Wachsen zuschauen, es wird mein beobachteter Ruhepunkt sein und den Versuch einer Extraktion aus dem In-Vitro-Status nach sechs Monaten, die ihr der pflanzende Kreateur im Glas gibt, hoffentlich lange überleben.

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Meinungen

sie haben doch nicht...
das reisefieber und die fotolust "kurriert"? ich vermiss...
Ranunkelchen - 27. Mai, 23:14
auch von mir....
... alles gute nachträglich.
Doro (Gast) - 10. Mär, 17:13
hab lieben dank!
Paula notes - 8. Mär, 23:03
herzlichen glückwunsch!...
schneck08 - 6. Mär, 00:04
ich selbst
kanns aus 9monatiger eigener abstinenz nur empfehlen!...
ranunkelchen (Gast) - 12. Okt, 21:35
ja, sicher
und fern und scheinbar nicht erreichbar. aber für mich...
Paula notes - 6. Sep, 01:12
der nachthimmel hat's...
der nachthimmel hat's gut.
schneck08 - 5. Sep, 10:14

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Zuletzt aktualisiert: 15. Apr, 10:03